Farbe und Form, Fläche und Raum. (1)

Zu den raumplastischen Arbeiten von Harald Kahl

 

Dirk Steimann (09/2017)

 

 

Harald Kahls plastisches Werk ist eng verknüpft mit jenen Entwicklungen in der Kunst der Moderne, die sich bis in die 1960er Jahre zurückführen lassen. Mit dem Aufkommen der Minimal Art und mit der damit einhergehenden Neubewertung von Konzepten der Konkreten Kunst der 1920er Jahre wurde der Begriff der Skulptur und der Plastik auf den Umraum ausgeweitet. Darüber hinaus sind die Faktoren Zeit und Bewegung als zusätzliche „Dimensionen“ in eine Vielzahl von künstlerischen Konzepten integriert worden. Zwar bilden die Ideen der konkreten und mitunter der konzeptuellen Kunst unbestritten die wesentliche Grundlagen für den Werkbegriff Kahls, so sind in diesem Zusammenhang für das Einzelwerk darüber hinaus zwei Aspekte entscheidend, die den Handlungshorizont prägen, innerhalb derer dieser Künstler seine Konzepte umsetzt: es sind dies der „Raum“ und der „Ort“. In der Gesamtschau verfolgt Harald Kahl in seinen Arbeiten zwei gleichwertig zueinander entwickelte Ansätze: Einerseits die ohne Außenbezüge bestehenden autonomen Plastiken sowie andererseits die Installationen, welche architektonische und räumliche Zusammenhänge aufgreifen.

 

Vor allem die klaren und einfach gegliederten Installationen und ortsspezifischen Arbeiten sind auch für den unvorbereiteten Betrachter leicht lesbar und begreifbar, weil sich hier alle wichtigen strukturellen Aspekte zeigen. Bei Kahls jüngsten Arbeiten handelt es sich um sorgfältig komponierte und austarierte Anordnungen plastischer Elemente, deren Oberflächenstruktur weniger glatt, aber dafür stärker strukturiert erscheint. Sie sind nach wie vor durch geometrische Grundformen gekennzeichnet. Ihnen verleiht er durch eine besondere Strukturierung ihrer Oberflächen und teilweise einer zusätzlichen farbigen Fassung eine ganz eigene Körperlichkeit. So zeichnet diese Werke – und hierin offenbart sich ein signifikanter Gegensatz zur Minimal Art – eine einzigartige haptische Qualität und „Handschriftlichkeit“ aus. Vor allem mittels dieser Eigenschaften wird sichtbar, auf welche Weise es diesem Bildhauer gelingt, auch Aspekte der abstrakten Malerei auf seine Werke zu übertragen. Durch die Konzentration auf meist monochrome Oberflächen macht er sich die Wirkmacht von „Farbe als Material“ zu nutze, durch die zusätzliche visuelle Erfahrungen möglich werden. Hiermit verbindet er Elemente von Bildhauerei wie auch von Malerei über ein „gemeinsames“ Interesse an grundlegenden Fragen des Raumes, des Ortes der Kunst sowie der Leinwand, beziehungsweise der Fläche. Hierbei steht das einzelne Objekt ganz für sich selbst: Es ist das, was es ist; geheimnislos und frei von Bedeutung. Das, was zu sehen ist, ist konkret gemeint, nicht stellvertretend. Das Objekt vermittelt keine Idee, sondern es ist die Idee. Nicht mehr und nicht weniger. Darin liegt mithin der große Reiz, aber auch die Herausforderung für den Betrachter.

 

Neben den Einzelplastiken entwickelt Harald Kahl spezifische Werke auf Zeit, die für einen bestimmten Ort geschaffen werden; Interventionen, die nur in der besonderen Wechselwirkung zu dem Aufstellungsort und zu der Umgebung „funktionieren“. Die Mehrzahl dieser Arbeiten entsteht unmittelbar vor Ort und für den Ort: Als behutsame und zeitlich begrenzte Eingriffe in einen gegebenen Raum. Hierbei spielen Kategorien wie öffentlicher oder privater Raum zunächst keine Rolle. Weitaus entscheidender für diese raumplastischen Setzungen sind die spezifischen Qualitäten des Ortes, den Kahl durch seine skulpturalen Setzungen und Eingriffe (mit-)definiert. Hier stört nichts die Wahrnehmung der Form als Form, der Farbe als Farbe und der räumlichen Ordnung als solcher: Volumen, Maßstäblichkeit und Raum, sowie die Beziehung eines Werkes zu seinem Ort, zum Boden und Raum.

Die formale und konzeptuelle dieser den Raum prägenden Konstruktionen wird durch eine mithin emphatische Wechselbeziehung zum Umraum verstärkt. Wie auch bei einer Vielzahl weiterer Werke Kahls handelt es sich hierbei um eine Anordnung, die im Raum einen veränderten, bisweilen einen völlig neuen Kontext entstehen lassen kann. Mit dem von Ernst Hermanns geprägten Begriff der „Konstellation“ dezentralisiert Kahl die Skulptur. Nicht die große Geste interessiert ihn bei derartigen Konstellationen, sondern allein die Einfühlung und die präzise Setzung ist entscheidend. Indem Kahl mehrere konkrete Formen auf einer Fläche in einem Raum in Beziehung setzt, holt er nicht nur ein weiteres Mal die Skulptur vom Sockel, sondern lässt den Raum zum verbindenden Element werden. Und so übernimmt der Boden des Ausstellungsraumes – beziehungsweise des Aufstellungsortes – die Funktion, welche einst der Sockel innehatte. Die Konstellation der plastischen Elemente im Raum wird für den Betrachter damit körperlich erfahrbar: Durch den Umgang mit dem Werk geht sein Inhalt auf diesen über und in letzter Konsequenz wird der Betrachter zum Teilhaber. Und diesem wird als aktiv Beteiligten, wenn nicht sogar als „Vollender“, in der Beziehung zwischen Künstler und Werk eine entscheidende Aufgabe zuteil. Damit ist Harald Kahls plastisches Konzept in direkter Linie mit solchen künstlerischen Haltungen verbunden, die über die Idee von der Kunst als Kontext auf die Gestaltung der Alltagswirklichkeit und die Selbsterfahrung des Individuums abzielen.

 

Erst im Prozess der Betrachtung und im Zuge des zeitlich-räumlichen Austausches zwischen der Arbeit, dem Objekt, und dem Betrachter, dem Subjekt, bildet sich der „Ort“ heraus. Ernst Hermanns wurde bereits genannt, aber ebenso wichtig sind in diesem Zusammenhang die Grundlagen wie sie beispielsweise von Carl Andre oder von Erich Reusch erarbeitet wurden. Andre zum Beispiel fasste Skulptur als eine „Straße“ auf, die sich nicht von einem festen Standpunkt aus erschließt. Sie soll nicht bloß gesehen, sondern vor allem „erlaufen“ werden. In ihrem Bezug auf ihre Umgebung sind derartige Bodenarbeiten „Orte“, die dem Betrachter wechselnde, durch den Raum bestimmte Wahrnehmungen des eigenen Körpers vermitteln.

 

Hierin wird ein weiterer zentraler Aspekt der künstlerischen Fragestellungen offenbar, die Kahl beschäftigen: die Idee einer „demokratischen Plastik“. Kahl stellt sich mit seinem an Minimal Art und Konzeptkunst geschulten künstlerischen Ansatz den Vorgaben des Ortes und des Ausstellungsraumes. In der Auseinandersetzung mit diesem und seinen Übergangs- und Zwischenräumen entwickelt er begehbare Objekte und plastische Gefüge, welche die Struktur ihrer Orte freilegen, sie sichtbar und individuell erfahrbar machen. Einerseits verändern und ergänzen diese Arbeiten die gegebenen Räume, andererseits lässt Kahl deren innere Struktur begreifbar und erfahrbar werden. Durch die Entscheidung des Künstlers auf den Sockel oder die Plinthe zu verzichten, befindet der Betrachter sich auf der gleichen Ebene wie die Plastik. Die am Boden platzierten Elemente fordern den Betrachter zum Umschreiten auf und verstärken, aus ihrer Horizontalität heraus, seine Selbstwahrnehmung. In der Regel ergibt sich eine Draufsicht, so dass eine Gleichwertigkeit von Plastik und Betrachter entsteht. Mit dem Aufkommen der Konzept Kunst und der Minimal Art im 20. Jahrhundert wird diese Form der Präsentation auch als wesentliches Merkmal für eine „demokratische“ Auffassung verstanden, da sie den aktiven Betrachter als wesentlichen Teil des Werkes einbezieht. Diesen durchaus komplexen Ansatz in der Raumplastik hat Donald Judd mit einfachen Worten zusammengefasst: „Man sieht und denkt und denkt und sieht, solange, bis es einen Sinn ergibt".

 

Subversion ist Schnellbeton (2)

Dirk Steimann (2010)

 

Mit den Worten „Material, Raum und Farbe sind die Hauptaspekte der bildenden Kunst“ und „Farbe ist Material. Sie ist so oder so, aber sie existiert unabweislich. Ihre Existenz ist wie sie ist, ist die Hauptsache, und nicht, was sie bedeuten könnte“, brachte der amerikanische Objektkünstler Donald Judd seinen Ansatz auf den Punkt. Judds Präzisierung des künstlerischen Objekts aus der Form und seiner Materialbeschaffenheit heraus, lässt auch jene übergreifende Idee nachvollziehbar werden, welche den Skulpturen, Plastiken und Installationen von Harald Kahl zugrunde liegt.

 

Skulptur in diesem Sinne verstanden, ist für Kahl gleichbedeutend mit den Eigenschaften Klarheit und Übersichtlichkeit sowie mit einem ‘ehrlichen’ Umgang mit den künstlerischen Materialien. Harald Kahl entwickelt seine Skulpturen, Plastiken und Installationen aus ‘einfachen’ Werkstoffen industriellen Ursprungs, wie beispielsweise Zementguss, Edelstahl, Sandstein und Leimholzplatten, die zu exakten geometrischen Körpern verarbeitet werden. Dementsprechend kommen seine Werke unprätentiös, selbstverständlich und unspektakulär daher. Das einzelne Objekt ist das, was es ist: geheimnislos und frei von Bedeutung. Nichts stört die Wahrnehmung der Form als Form, der Farbe als Farbe und der räumlichen Ordnung als solcher. So liegt den Werken ein klar definierter Formenkanon zugrunde: Volumen, Maßstäblichkeit und Raum, sowie die Beziehung eines Werkes zu seinem Ort, zu Boden und Raum. Denn der Raum ist das verbindende Element jeder Skulptur und Installation. Das bedeutet auch, dass der Boden zum Sockel wird, auf dem der Betrachter sich als Teilhaber des Werks wieder findet.

 

Harald Kahls in sich stets klare und einfach gegliederte Plastiken sind selbst für den unvorbereiteten Betrachter lesbar und begreifbar, weil alle wichtigen strukturellen Aspekte einsehbar sind. In der Regel handelt es sich um eine präzise Anordnung identischer und vorfabrizierter Elemente, deren Oberflächenstruktur ihrer Tiefenstruktur entspricht und zugleich ihre Funktion abbildet. Damit ermöglichen seine Werke grundlegende Erfahrungen sowohl von Skulptur und Raum, als auch von Skulptur im Raum. Die Position des Betrachters spielt hierbei eine entscheidende Rolle: Er wird in seiner Fähigkeit zu sehen und zu reflektieren gefordert. Dies erfordert Einfühlung, Geduld und Zeit. Der Prozess des Sehens wird hier zur eigentlichen Arbeit: im Raum und mit dem Raum. Begreifbar und anwendbar werden Kahls Arbeiten in der Absicht einer ästhetischen Erfahrung. Ohne faktisch genutzt werden zu können, liefern sie die Grundlage für die Befragung einer vertraut erscheinenden Dingwelt und einer selbstverständlich erscheinenden Wirklichkeit. Die in ihnen formulierten Schemata finden in der Wahrnehmung und der Reflexion des Betrachters ihren Vollzug. Damit ist Harald Kahls bildhauerisches Konzept in direkter Linie mit jenen künstlerischen Haltungen verbunden, die über die Idee von der Kunst als Kontext auf die Gestaltung der Alltagswirklichkeit und die Selbsterfahrung des Individuums abzielen.

 

Jedoch: Wenn Kahls Arbeiten zunächst auch den Anschein erwecken, in Struktur und Konzeption ausschließlich funktionalen Prinzipien zu folgen, so genügen sie sich nur auf den ersten Blick als Gegenstände und Objekte des ‘praktischen Nichtgebrauchs’. Tatsächlich verfügen sie über einen entscheidenden zusätzlichen Gebrauchswert, den Erkenntnisgewinn. Denn sie lassen sich als Wahrnehmungsangebote verstehen, die zwar Begrifflichkeiten wie Raum, Ort und Struktur umkreisen, sie sind aber nicht ausschließlich auf diese zu fixieren. Ohne praktisch genutzt werden zu können, liefern sie die Grundlage für die Befragung einer vertraut erscheinenden Dingwelt. Indem Harald Kahl Begriffe nur andeutet, wird der Ausgangspunkt für einen offenen Reflexionsprozess geschaffen. Als funktionsunbrauchbare Artefakte bieten die Skulpturen Erfahrungsmöglichkeiten, die im Zwischenbereich von Dingdefinition und Dingbenutzung liegen. Begreifbar und anwendbar werden sie schließlich in der Absicht einer ästhetischen Erfahrung. Denn erst die Assoziations- und Imaginationsfähigkeit des Betrachters weist über die ‘spröde’ Realität der Dinge hinaus.

 

 

 

 

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