Plastik zwischen Rationalität und Anmutung

Ferdinand Ullrich (09/2017)

 

Das Werk, das Harald Kahl für das Märkische Museum in Witten geschaffen hat, besetzt einen gesamten Ausstellungsraum. Neun einfache, kubische Objekte sind im Raum verteilt. Die Quader haben alle einen identischen quadratischen Grundriss von etwa 27 x 27 cm. Sie variieren allerdings in der Höhe zwischen 33 und 93 cm. Die stereometrischen Körper sind zugleich ähnlich wie sie auch deutlich sichtbar unterschieden sind.

 

Bei einer derart reduzierten, nüchternen und einfach zu beschreibenden Formensprache erwartet man auch eine entsprechend nachvollziehbare Verteilung im Raum. Diese Erwartung wird enttäuscht. Es gelingt nicht, ein System zu erkennen. Die Elemente scheinen willkürlich oder zufällig im Raum verteilt. Und so ist es auch. Hier herrscht nicht die Mathematik, sondern ein eigener, vom Künstler gesetzter Rhythmus.

 

In der Serialität der neun Elemente entsteht so eine doppelte Spannung, die sich aus den unterschiedlichen Höhen wie auch aus der Raumordnung im Ganzen ergibt. So einfach und stringent dieses Werk also erscheint, so komplex ist seine Erscheinung, die man nicht als eine Erscheinung sehen darf, sondern als ein Potential unendlich verschiedener. Simultan ist das Werk in seiner Gesamtheit gegeben und doch nur sukzessive in seiner Totalität zu erfahren. Das Werk ist ein solches nur in dieser räumlichen Ganzheit, nur als Raumerscheinung im Hier und Jetzt. Außerhalb der Ausstellungssituation haben wir nur beziehungslose Objekte im Lager des Künstlers, lediglich Material und Potential für ein Werk.

 

Die Objekte besetzen den Raum, in den der Betrachter erst eindringen muss, um eine umfassende Raumerfahrung zu haben. Und da die Objekte sockellos auf dem Boden platziert sind, muss der Betrachter diesen Boden betreten, womit er zugleich das Ensemble aufbricht, stört und als Körper in eine Konkurrenz zu den Artefakten tritt. Dies ist die Grunderfahrung der modernen, sockellosen Skulptur.

 

Durch die Vielansichtigkeit der möglichen Perspektiven und die Vielheit der Einzelteile hat der Betrachter eine Raumerfahrung, die unabgeschlossen ist und auch bleiben muss. Zwar gelingt eine gewisse Übersicht, weil die Augenhöhe über den Objekten liegt. Dennoch findet sich keine richtige oder allein gültige Perspektive, aus der man auf eine klare Ordnung schließen könnte, die man ohnehin vergeblich suchen würde. Diese Orientierungslosigkeit bedeutet zugleich ein Höchstmaß an Offenheit.

 

Und schaut man genauer hin, so bemerkt man, dass die einzelnen Objekte sich leicht in ihrer Oberfläche unterscheiden. Sie ist von Hand gewachst und mit schwarzer Tusche versetzt. So entsteht eine geradezu informelle, um nicht zu sagen malerische Oberfläche, die zudem haptische Qualitäten aufweist, wie eine pastose Fingermalerei.

 

So entfernt man sich immer weiter vom ersten Eindruck einer minimalistischen Raumskulptur zu einer sehr spannungsvollen und durchaus individuell gestalteten Figurengruppe, in der jedes Einzelelement zwar zu einer Familie gehört, aber dennoch eigenen Charakter entwickelt.

 

Die Farbe tut ihr Übriges. Das Schwarz der Tusche, eingebunden in den Wachsüberzug, erscheint als dunkles Blau. Die aufgeraute Oberfläche bewirkt unterschiedliche Lichtreflexionen und lässt die Farbe zwischen lichthell und tiefdunkel changieren.

 

Während dieserart Wachsüberzug vom Künstler bewusst so gemacht ist, bewirkt in den plastischen Werken aus Granit, der Stein selbst, man kann auch sagen die Natur selbst diesen Effekt der Verlebendigung einer einfachen, kubischen Form. Insofern besteht hier kein Widerspruch in der Anmutung und äußeren Erscheinung.

 

So bindet sich dieses Werk nicht nur in die Reihe von Bodenarbeiten ein, die durchweg aus neun Einzelelementen bestehen, sondern sie sind ein Charakteristikum des Werks ingesamt.

 

Harald Kahl versteht dieses Werk auch als eine Hommage an seinen Lehrer an der Kunstakademie Münster Ernst Hermanns. Dabei sind es nicht nur die „mehrförmigen Plastiken“, die Hermanns seit der zweiten Hälfte der 1950-er Jahre entwickelt hat und in viele Varianten durchgespielt hat, auf die sich Kahl bezieht. Es ist vor allem auch der Werdegang von Ernst Hermanns seit den frühen 1950-er Jahren, in der er eine sehr eigene Variante der informellen Plastik entwickelt hat. Hermanns ging dabei von einer mehr organische-amorphen, gleichsam haptischen Form aus, die er zunehmend ins Konkrete entwickelte und zugleich mehrteilig auf einer Fläche verteilte.

 

Harald Kahl geht da gleichsam einen Schritt zurück bzw. verbindet zwei sukzessive Phasen in Hermanns Entwicklung und setzt sie simultan ins eigene Werk, das Haptische und das Konkrete. In dem Maße, wie Ernst Hermanns sich von der informellen Handschriftlichkeit entfernt, kultiviert Harald Kahl sie erneut. Die wenigen monumentalen Bildhauerzeichnungen von Ernst Hermanns, die er in Tusche gezeichnet hat, machen gerade diesen Aspekt des Handschriftlichen überdeutlich.

 

So bemerkt man bei Harald Kahl bei allem Bestreben nach Reduktion und Vereinfachung doch durchgängig eine Tendenz zur Bewahrung des Anmutungshaften. Während es sich in der Rauminstallation in den jüngsten Einzelwerken in der geradezu malerischen Handschriftlichkeit der Oberfläche zeigt, ist es in den früheren Werken die Faszination des Materials – italienischer Granit und immer wieder Ruhrsandstein. Gerade der Granit wird nicht geglättet und poliert, sondern gebrochen und die Bruchflächen bleiben mit ihrer rauen Oberfläche bestehen (vgl. „192“ vom 3. Juli 2010, Abb. S. 13). Das, was hier durch den Herstellungsprozess noch unwillkürlich entsteht, wird in den neuesten Werken bewusst hergestellt.

Selbst die in Beton gegossenen Werke – auch das eine Parallele zum frühen Werk von Ernst Hermanns – verzichten auf die Glättung. Vielmehr bekennen sie sich zum Material, ja zu seiner Zusammensetzung aus unterschiedlich großen und verschiedenfarbigen Steinen, die durch den Zement zusammengehalten werden. Selbst die Grobspanplatte, die im einfachen, quaderförmigen Bestand ein Höchstmaß an Lebendigkeit offenbart, ist ein Beleg für diese Haltung („195“ vom 3. Juli 2010).

 

Man könnte also den Ansatz von Harald Kahl einen gemäßigten Minimalismus oder einen verhaltenen Konstruktivismus nennen. Insofern ist er ein klassischer Bildhauer mehr als er ein Theoretiker oder gar ein Konzeptualist wäre. Ihm ist die sinnliche Erfahrung unabdingbar, die Lust am Material, an der haptischen Qualität der Oberfläche, dem optischen Reiz der Farbe.

 

Die Sockellosigkeit des Werks im Wittener Museum ist als wichtiges Moment bereits benannt worden. Aber sie spielt auch in anderer Weise eine Rolle. Seine Rauminstallation kann man schließlich auch als eine Ansammlung von Sockeln verstehen, denen das jeweils zugehörige Werk abhanden gekommen ist. Denn genau so ist der moderne Sockel geformt – als einfacher, aufrechtstehender Quader. Er markiert auf einfachste Weise die ästhetische Grenze zwischen Betrachterraum und Kunstraum. Dies thematisiert der Künstler auch deutlich. In seinem Werk „156“ vom Oktober 2006 (Abb. S. 28) wird dieses Thema besonders augenfällig. Zwei gleichförmige aber nicht gleich große Edelstahlquader mit quadratischem Grundriss sind übereinandergestellt. Unter Verzicht auf eine besondere Oberflächenanmutung, wird hier neben der Gleichförmigkeit etwas anderes zum Thema. So sehr die beiden Elemente von ihrer identischen Form leben, so sehr haben sie doch höchst unterschiedliche Funktion. Das untere Element trägt das obere, ist deshalb leicht größer und das obere lastet auf dem unteren. So liegt es nahe unter einem eher klassischen Augenwinkel, das untere Stahlobjekt als Sockel und das obere als das Werk zu betrachten. Formal und materiell nahezu identische Objekte haben vollkommen verschiedene ästhetische Funktionen. So hat selbst das, was als ein einfacher Betonsockel erscheint (z.B. „105“ vom November 1996, Abb. S. 39), eine höchst plastische Qualität und zugleich eine programmatische Botschaft, ohne auf die Anmutungsqualitäten des Materials zu verzichten.

 

Diese Beispiele mögen genügen, um deutlich zu machen, dass dem Künstler die Bildhauerei nicht nur jenseits des strengen Konzepts von Bedeutung ist, sondern auch jenseits einer Aufweichung der plastischen Prinzipien auf deren Einhaltung er beharrt. Die Verfransung der Grenzen des Mediums in Richtung Installation, sozialer Plastik oder zeitlich beschränkter Performation ist seine Sache nicht.

 

Mit Raum, Zeit und Kausalität hat Immanuel Kant die Kategorien unseres Denkens bezeichnet. Realisierbar sind sie durch sinnliche Erfahrung, z. B. das Sehen. Seherfahrung wird hier zur sinnlichen Erkenntnis, die Vernunft mit Emotion, Rationalität mit Anmutung verbindet.

 

Es ist eine Erkenntnis, das macht auch das Werk von Harald Kahl deutlich, nicht zu einem Ende kommt. Es bestätigt das Kunstwerk in seinem innersten Daseinszweck als ein unerschöpfliches Potential des Lebendigen.

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