KONKRETE PLASTIK

am Beispiel der Vertikalen

 

Harald Kahl (09/2017)

 

 

Um Plastizität als Körperlichkeit wirklich zu begreifen, um ihre Eigenheiten zu verstehen, ist es gut, sie zu greifen. Das eigenhändige Formen von Material, von erdigem Ton allemal, ist eine geradezu archetypische Erfahrung.

Dabei lernt man nicht nur das Material und seine Eigenschaften kennen, sondern gleichzeitig Wesentliches von sich selber. Man erlebt sich als Schöpfer einer vorher so nie da gewesenen Form, als Kreator einer neuen Plastik. Nicht nur, dass man ein neues Produkt schafft, vielmehr erfährt man ein Grundthema menschlicher Existenz, die Möglichkeit produktiven Gestaltens ganz allgemein und man erfährt, selber Schöpfer zu sein. Wir können unseren Geist, unsere Ideen und Empfindungen nicht nur in Worte und Sprache fassen, sondern auch in Objekte, in plastische Formen im Raum.

 

Ich habe es immer als Herausforderung und geradezu Glück empfunden, Plastiken formen zu können, und dies im Bewusstsein, in eine der ältesten Kulturtechniken des Menschen einzutauchen und zu versuchen, diese Art von Sprache und Ausdruck weiterzuentwickeln. Das Formen und Plastizieren, die Grundthemen der räumlichen Gestaltung, das Verhältnis der Proportionen zueinander, das richtige Maß finden, das Stehen und Liegen, das Lagern und speziell das Errichten von Objekten begeistern mich.

 

Zu meinem Selbstverständnis als Künstler gehört es, vielleicht ist das Studium bei Timm Ulrichs dafür ausschlaggebend gewesen, dass es, bei aller Schwerpunktsetzung auf das eigentliche künstlerische Tun, auf die bildende Praxis, doch auch gleichzeitig auf das reflektierende Verarbeiten ankommt, die Bezugnahme also auf historische und speziell kunsthistorische Gegebenheiten und ebenso auf kunst-theoretische Fragen. Wir dürfen nicht so tun, als seien wir die Ersten. Schon die Kommentarbedürftigkeit moderner Kunst verlangt dies.

Entsprechend wird im 1. Ausstellungskatalog der Skulpturprojekte Münster formuliert: Indem der Künstler seinen eigenen Standpunkt (seine geistig / materiellen Bedingungen) mitreflektiert, versteht er sich zum ersten Mal in der Geschichte dynamisch auf ständig höherer gesellschaftlicher Stufenleiter produzierend als Produktivkraft im Ästhetisch / Künstlerischen. ¹

 

40 Jahre später taucht ein neuer Aspekt auf, wenn es im 5.Katalog nun heißt: Die vermeintliche Verfügbarkeit von allem und allen rund um die Uhr lässt die Zeit schrumpfen. Gegenüber dieser Entwicklung eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren, wird immer wichtiger – zumal Entschleunigung eine gewisse Qualität darstellt, die grundsätzlich eng mit dem Medium Skulptur verknüpft ist. ²

Und ebenso grundsätzlich beschreibt Klaus-Ulrich Boesner die heutige Rolle des Künstlers :

Wer malt, zeichnet, mit seinen lebendigen Sinnen und Händen gestaltet, rebelliert letztendlich gegen einen dominierenden Trend, der von technischer Künstlichkeit geprägt ist, an dem weltumspannende Konzerne sich eine goldene Nase verdienen und uns zunehmend in Abhängigkeit bringen. Wer malt (und plastiziert, d.V.) rebelliert dagegen, ist vielleicht sogar ein Revolutionär. Mögen die Künstlichkeiten, die die Technik ermöglicht, noch so faszinierend sein – für uns bleibt am spannendsten immer noch der Mensch mit seinen eigenen unglaublichen Fähigkeiten. ³

Die Rolle der Kunst ist also durchaus zwiespältig. Trägt sie einerseits zum affirmativen, zum beruhigenden und ausgleichenden Charakter der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens bei, ist sie in Zeiten zunehmender Digitalisierung und Technisierung auch ein nach wie vor kritisches und widerständiges Medium, um dominanten gesellschaftlichen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen.

So verstehe ich mich zumindest mit meiner Kunst. Ähnlich formuliert es Mic Enneper: Ich mache Kunst, weil ich das Gefühl habe, es fehlt etwas. Mich beschäftigen deshalb Formen. Formen vermitteln Inhalte, sie sind unmittelbar thematisch. Die Strenge der Form, Ihre Einfachheit weist über ihre Entstehungszeit hinaus, macht sie zeitlos gültig.

 

Diese relative Zeitlosigkeit belegt ein Blick in die Geschichte des Plastizierens, um mit der Historie zu beginnen. Die uns bekannten ersten Kulturobjekte unserer Gattung sind wohl die kleinen Plastiken der „Venus vom Hohle Fels“ (etwa 40.000 Jahre alt) und, etwa 20.000 Jahre später - welche Zeiträume -, die „Venus von Willendorf“. Plastizieren gehört also von Beginn menschlicher Existenz wie Musizieren und Malen (z.B. Lascaux) zum Menschsein dazu. Dies zeigt sich auch an den erst vor wenigen Jahren entdeckten riesigen Steinmonumenten im Südosten der heutigen Türkei, im Kurdengebiet um Göbekli Tepe. Wohl vor 11.000 Jahren wurden hier Tempelanlagen errichtet. Neben aus Steinen gearbeiteten vollplastischen Köpfen und Figuren sowie zahlreichen Tiergestalten sind es vor allem ebenmäßig behauene Steinmonolithe, 6 m hoch, die vermutlich ein Dach aus Holz und Fellen trugen, und, 50 Tonnen schwer, als riesige Steinkreise mit einem Durchmesser von 15 Metern gesetzt sind. Und davon etwa 20 Stück in diesem Hügel! Hier liegt der Ursprung der Megalithkultur, die sich über ganz Europa ausbreitete, von Schottland bis Marokko und Spanien über Malta bis Catal-Höyük in der Südtürkei, phantastische Steinbauten. Am bekanntesten sind wohl Stonehenge und Carnac in der Bretagne als Kultorte, die die Kunst des Aufrichtens riesiger Steine, Menhire, zum Mittelpunkt hatten. Wenn auch fast sinnbildlich zerbrochen, so muß man sich die Wirkung des aufgerichteten Steins von Locmariaquer, einem bretonischen Dorf in der Nähe von Carnac, vorstellen, der einst 21 Meter Höhe als Monolith erreichte.

Auch die Ägyptischen Obelisken sind in dieser Tradition zu denken, bevor dann das römische Reich und die Christianisierung mit anderen Kulturtechniken unter anderen Prämissen wiederum Riesenbauten errichteten. Diese grundlegenden Elemente unserer Kulturgeschichte verankern gewissermaßen das Prinzip Vertikale historisch.

 

Ein Sprung nun zu Aspekten moderner Plastik: An deren Anfang gehört neben Rodin sicherlich der in Paris fast wie ein Eremit lebende Rumäne Brancusi, der viele Varianten seiner „Endlosen Säule“ errichtet hat, die größte hierbei mit 27 m in Tirgu-Jiu 1937.

An- und abschwellende Elemente einer rhombusartiger Form bilden eine Säule, die als eine Aufeinanderfolge identischer Körper gebildet ist und ihrer Struktur nach seriell gefasst ist. Aus dem optischen Nachvollzug dieser Formung, dem rhythmischen An- und Abschwellen, dem Werden und Vergehen gleich, resultiert der Eindruck ihrer Unendlichkeit obwohl sie begrenzt ist. Der Kunsthistoriker F. T. Bach hat zu dieser Wechselwirkung geschrieben: Gerade als unendliche ist die Säule notwendig begrenzt, ihre Endlichkeit ist die Bedingung ihrer Unendlichkeit. Und folgerichtig wertet R. Wedewer: Das Wirkungspotenzial eines -konzeptuellen- Formprinzips wie hier der Vertikalität, kann unmittelbar thematisch werden, und zwar thematisch in einem durchaus inhaltsbezogenen allgemeinen und grundsätzlichen Verständnis.

 

In ihren Schriften begründen diese Kunsthistoriker 4, wie im intensiven Vergleich moderner europäischer Plastik mit oberflächlich ähnlichen Objekten des ägyptischen und indo-afrikanischen Kulturraums schon immer jede Form ihr Bedeutungspotenzial hat. Jede konkrete Form hat eine Bedeutung.

Wedewer: Mit dem Begriff der Formautorität wird allgemein zum Ausdruck gebracht, dass die sinnliche Präsenz einer nicht inhaltlich bestimmten (oder nicht abbildenden, d.V.) Arbeit gleichwohl eine Intensität vermittelt, die nicht in der bloßen Formalität der Erscheinungsweise aufgeht und folglich einen grundsätzlichen Bedeutungshorizont aufzeigt. 5

 

Es ist also nicht nur die reine Form an sich, formal quasi. Auch wenn kein externer Inhalt dargestellt wird, sie hat ihren eigenen Bedeutungszusammenhang: Am eindringlichsten verspüren wir sie mithin angesichts solcher Formgebilde, die, auf welche Weise auch immer, Grundprobleme der Plastik reflektieren…5 (wie das Stehen, Aufrichten, Liegen und Lagern etc., d.V.)

 

Aber nicht nur, dass nach diesem Verständnis eine einfache elemetare Form, so absolut ungegenständlich sie daher kommt, sich nicht auf das Beschreiben ihrer Form reduzieren lässt. Sie zeigt mehr: Das heißt, mit diesen Ideogrammen oder konzeptuellen Form-Zeichen ist uns das Grundprinzip für die Darstellung von Welt und Wirklichkeit - auch auf den Menschen bezogen - gegeben, die eine Bedeutung oder einen „Inhalt“ durch eine nicht darstellende Form zu repräsentieren vermag...Insofern ist die konzeptuelle Form (hier die Vertikale,d.V.) als eine bedeutende und mithin bedeutsame Form stets und notwendig – wie ein Grundbegriff – von komplexer Welthaltigkeit. 6

 

Wie ist das gemeint, was geschieht beim Errichten der Vertikalen eigentlich?

Das Prinzip Vertikale hat vielschichtige Bedeutungsebenen: eine vertikale Plastik verändert den sie umgebenden Raum. Wenn ein solches Objekt nicht nur beiläufig positioniert ist, sondern seinen stimmigen Platz gefunden hat, passieren mehrere Dinge.

Zuerst ist die Plastik eine Setzung, eine Markierung. Das englische I verweist auf diese Bedeutungebene, die uns ebenfalls von Pfahlsetzungen bekannt ist. Man steckt sein Revier ab mit diesem Pflock. Hier bin ich und sonst niemand - könnte es heißen. Zunächst ist die Vertikale also eine Definition.

Die mit ihr korrespondierende Horizontale gibt uns die weite Ebene bis hin zur Ferne oder eben bis zum Horizont. Die Vertikale definiert das Hier, die Stelle des Platzes.

In diesem „Hier“ steckt aber mehr. Neben dieser Bedeutung als Markierung hat die Vertikale als Plastik den zusätzlichen Aspekt, dass der vorher undefinierte und leere Raum zu einem Ort wird. Der Raum wird sozusagen besiedelt, er wird damit von dem allgemeinen unspezifischen Raum zu einem Ort für uns, wir „vermenschlichen“ ihn. Aus dem Raum an sich wird ein Ort für uns. Der unspezifische Raum wird so erst erfahrbar. Seine Dimensionen werden geradezu erst durch plastische Gebilde erlebbar, ja gerade körperlich spürbar. Wir reflektieren dies, wenn wir von Raumgefühl und Formgefühl sprechen.

 

Das Prinzip Vertikale vermittelt zudem zwischen oben und unten. Es ist immer die Dimension zwischen Himmel und Erde. Religiös interpretiert schafft die Vertikale eine Verbindung zwischen Gott dort oben und uns Menschen hier unten. So ist im Grunde das Streben der Gotik in die Höhe durch den Bau der Kathedralen zu verstehen.

Erich Kästner ergänzt diesen Aspekt. Er betont, „dass ein so großer Teil des Heilsgeschens auf Bergen geschieht. In jedem Berganstieg liegt ein Abglanz dieses Geschehens. Das kommt von der Kraft, die in das Wort oben gebannt ist, das kommt von der Gewalt des Wortes empor. Auch wer längst verlernt hat, an Himmel und Hölle zu glauben, kann doch nicht den Rang der Worte oben und unten vertauschen“. 7

So ist in diesem Zusammenhang ebenfalls an Petrarca zu erinnern, der 1336 beschreibt, wie der Blick von der Höhe des Berges Mont Ventoux im Menschen am unmittelbarsten das Gefühl der Weite überkommt. Es ist ebenso das Gewinnen von Leichtigkeit gegenüber der irdischen Schwere. Schon Aristoteles formuliert: „Oben ist keine beliebige Richtung, sondern die, wohin die Flamme und das Leichte getragen wird. Ebensowenig ist unten beliebig, sondern der Ort, an dem sich Erde und Schweres befindet.“

 

Letztendlich ist dieses nach oben Streben, Gipfel erklimmen, Höhe gewinnen wollen und Leichtigkeit immer auch ein der Schwere entrinnen Wollen, einen Überblick anstreben, Klarheit und schließlich Freiheit.

Zum Erreichen des Erhabenen muss gehoben werden. Das Aufrichten ist die entscheidende Tat. Die Schwerkraft muss in diesem Prozess überwunden werden ähnlich wie beim Fliegen.

Schon das Stehen erfordert immer eine beständige Anspannung, um dem Zug der Schwerkraft Widerstand leisten zu können...Beim Stehen muss der Mensch im wörtlichen Sinne sich halten, d.h. er muß in einer ständigen Anstrengung sich aufrecht halten, und das ist immer eine eigene Leistung gegenüber den natürlichen Kräften der Schwere. Das aufrechte Stehen ist also eigentlich ein immer erneutes sich Aufrichten, das jeden Augenblick neu den Kräften der Schwere abgerungen wird. Diese vertikale Haltung weist nach aufwärts, fort vom Boden. Sie ist die Gegenrichtung gegen die bindenden, fesselnden Kräfte der Schwere. Im Aufrichten, auch im Aufrichten von Plastiken, machen wir einen Beginn, uns von der unmittelbaren Herrschaft physikalischer Kräfte zu befreien.

 

Im Aufrichten realisiert sich der Mensch in seiner Freiheit und stellt sich frei der Umwelt entgegen, formuliert O. F. Bollnow ähnlich wie E. Straus: „Im Aufrichten gewinnt der Mensch einen Stand in der Welt; er gewinnt die Möglichkeit, sich der Welt gegenüber selbständig zu verhalten, die Welt und sich selbst zu gestalten“. 8

 

Als Variante hiervon erscheint der aufrechte Gang im symbolischen Sinn. Dieses sich – nicht – beugen – lassen, den eigenen politischen Weg gehen, sich nicht anpassen, womöglich sogar gegen den Strom schwimmen, Rückrat beweisen, das sind die Formulierungen, die diesem Aspekt entspringen.

 

Nun ist hiermit die anthropologische Dimension längst beschrieben. Der Mensch kann als Zweibeiner definiert werden, der sich über Jahrmillionen vom tierischen Kriechen und Krabbeln der Vier- und Mehrbeiner aufgerichtet hat. Lucy, diese als erstes menschliche Wesen bezeichnete Frau aus dem ostafrikanischen Becken, die vor etwa 3 Millionen Jahren den aufrechten Gang praktiziert hat, zeugt davon. Das aufgerichtet - Sein erinnert archetypisch daran. Es hat seinen Widerhall in der individuellen Geschichte jedes Einzelnen. Auch wenn die Erinnerung daran schwach sein mag: Welch einen Schritt hat jeder von uns getan, als er sich selbst aufgerichtet hat! Stehen können und Laufen lernen!

Und all dies ist als Bedeutung und insofern inhaltliche Dimension schon immer in jeder Art des Aufrichtens mit enthalten. Es ist einerseits bei moderner ungegenständlicher Plastik also die Sprache von „Es ist was es ist, eine konkrete Form im Raum, nichts Abbildendes und nicht auf etwas Anderes, außerhalb Existierendes Hinweisendes“. Aber es ist dabei auch immer die oben skizzierte inhaltliche Dimension und Be-Deutung, die gleichzeitig vorhanden ist. Formen sind zuallererst Formen, aber nicht nur das: jede Form hat ihre Bedeutung. Formen ist bedeutsam.

 

Literatur

 

1 R. Schüttle, Ausstellungskatalog Skulpturprojekte Münster 1977

2 K. König, B. Peters und M.Wagner, Katalog Skulpturprojekte Münster 2017

3 K.-U. Boesner, Interview Juli 2017

4 nach R. Wedewer: Anmerkungen zum Prinzip Vertikal in: Festschrift zum 65. Geburtstag von Siegfried Salzmann, Bremen 1993

5 R. Wedewer in Standpunkt Plastik, Skulpturenmuseum 'Glaskasten' Marl, Ostfildern 1999

6 R. Wedewer: Form und Bedeutung, Köln 1999

7 in E. Kästner: „Ölberge, Weinberge“, Fischer 1960

8 in O. F. Bollnow: „Mensch und Raum“, Stuttgart 2000.

 

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